„Jenseits der Tränengrenze“
Nach der Begegnung mit dem Künstlerkreuzweg von Roswitha Kinateder (2007) und mit Annett Graubners anrührender Ausstellung „Lebens-Kreuze“ (2008) stand am 29. Februar 2008 unter dem Titel „Jenseits der Tränengrenze“ erneut ein Künstlerkreuzweg in unserer Kirche auf dem Programm. Die Pfarrgemeinde war eingeladen, sich einen Abend lang dem Schmerz und der Zumutung des Kreuzes auszuliefern, aber sich zugleich auch dem im Kreuz verborgenen Lebensgeheimnis anzunähern.
Der Dachauer Künstler Heribert Spitzauer hatte eigens für diesen Abend ein einprägsames Bild gemalt, das den Versammelten das ‚Leiden am Leben‘ vor Augen führen sollte. Sein Ölgemälde, das mehr als mannshoch und ebenso breit ist, wird dominiert durch eine Frauenfigur in einem roten Gewand. Der weit aufgerissene Mund stößt einen stummen, aber anklagenden, dem Betrachter zu Herzen gehenden Schrei aus. Die in tiefen Höhlen fast verborgenen Augen starren verständnislos in die Ferne. Neben ihr am Boden liegt ein bleicher, geschundener Leichnam. Spitzauer hat eine „Pietà“ in völlig ungewohnter Sichtweise geschaffen: Maria verweigert den Gehorsam. Die Gottesmutter Maria erscheint ganz und gar nicht als die erhabene Erdulderin von Gottes Willen. Sie brüllt ihm ihren Schmerz ins Gesicht. Und für den Künstler ist das wohl zugleich der Schmerz aller Mütter dieser Welt, deren Kinder sterben müssen, deren Söhne ohne Schuld elend zu Tode kommen auf den Schlachtfeldern dieser Welt.
Wie ursprünglich in der katholischen Tradition üblich, bestand der Kreuzweg an diesem Freitagabend nur aus sieben statt vierzehn Stationen. Den Stationen der biblischen Passionsgeschichte wurden jeweils Texte aus der Literatur parallel gegenübergestellt. Es waren Bekundungen und Bekenntnisse, die vom „Kreuz im Leben“ eines jeden Menschen erzählen – Texte von Franz Kafka, Ingeborg Bachmann, A. Bissinger, Sabine Naegeli, Hilde Domin und Marie Luise Kaschnitz. Die tiefgründigen Textabschnitte wurden von den Schauspielern Barbara Witt und Jürgen Wegscheider einfühlsam, ausdrucksstark und eindringlich dargeboten: Wenn sie über die Stille sprachen, dann war diese Stille buchstäblich greifbar.
Bild und Wort wurden – wie schon bei dem Künstlerkreuzweg im Jahr zuvor – durch die Musik von Gudrun Huber (Violine und Viola) und Florian Ewald (Saxofon, Klarinette) virtuos und wirkungsreich verbunden und zu einem unvergesslichen Gesamtkunstwerk verschmolzen. Einige Male waren es nur kurze Paraphrasen, zwei oder drei Notenzeilen lang, die die Stimmung widerspiegelten oder die Aussage kommentierten. Aber die beiden Meistermusiker wurden keineswegs etwa nur zum Ausfüllen von Pausen eingesetzt. Sie griffen mit Einwürfen, mit Repliken wie echte Dialogpartner mehrmals auch in die Texte ein. Das war eine grandiose Idee von Martina Schlüter, die auch die Texte ausgewählt und eine Einführung verfasst hatte.
„Der Wunsch nach der Landschaft diesseits der Tränengrenze taugt nicht, der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten, der Wunsch, verschont zu bleiben, taugt nicht,“ notiert Hilde Domin in einem ihrer Gedichte. Die Intention dieses kostbaren Abends mit Bild, Wort und Musik war, dass die Zuschauer entdecken: Auch im Leben von jedem von uns ist das Kreuz eine Realität, der wir uns aussetzen müssen. Früher oder später stößt jeder von uns an diese schmerzliche Grenze. Als Fazit sehen wir ein: Wir müssen uns stellen und versuchen, Leid und Schmerz als zum Leben dazugehörig zu verstehen und anzunehmen. Martina Schlüter sieht es so: „An einen Gott zu glauben, der durch das Leiden und den Tod hindurch zum Leben gekommen ist, das bringt uns an die Grenze dessen, was wir verstehen können. Unser Gott mutet uns aber so ein Leben voller Leid zu. Und er traut es uns auch zu. Und so ist und bleibt unser Leben eine wahrhaft unglaubliche Reise.“